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QueerSpekten

Wann bin ich genug?

Wann bin ich genug?
Dieses Fragment ist von uns, den Queerspekten. Einer Theatergruppe, die sich ganz viel unter Anderem mit Fragen wie „Wer bin ich?, „Wen liebe ich? und „Wie liebe ich? beschäftigt.
Wir sind aktiv am Schauspiel Essen und wünschen uns, dass auf der Bühne mehr Geschichten und Perspektiven erzählt werden als die der (meist gescheiterten) Hetero-Liebe.
Nicht weil wir die Hetero-Geschichten ablehnen, sondern weil diese oft die einzigen Geschichten sind, die erzählt werden.
Ende des Jahres 2020, mitten im Lockdown, sind wir alle irgendwann eines Morgens aufgewacht und jede*r von uns, telepathisch verbunden, hat sich die Frage gestellt: „Wann bin ich genug?".
Wir haben begonnen zu schreiben oder nach Texten zu suchen.
Ja - die Frage nach dem Genug Sein, so gestellt ist unglaublich „groß”. Wann bist du genug? In welchen Situationen fühlst du dich genug? In welchen nicht? Was an dir ist genug? Was nicht? Was heißt überhaupt genug sein? Für wen oder was? - Alles Gedanken, weitere Fragen, die uns beim Schreiben beschäftigten.
Es sind daraus Skizzen entstanden. Nichts festes. Eine Momentaufnahme. Vielleicht ein bisschen wie ein Tagebuch.
Schönerweise war uns das nicht genug und wir haben uns einen Menschen gewünscht, der uns zu Hause besucht und uns fotografiert. Das ist auch passiert. Dieser Mensch kam zu uns und fotografierte uns. Sprach mit uns über das „Genug sein” aber auch über vieles Andere.
Die Fotos haben wir jetzt mit den Texten einmal zusammen arrangieren lassen.
Danke!

When am I enough?
This is a fragment of ours, of the Queerspekts. As a theatre group we have discussed questions like ‘Who am I?’, ‘Whom do I love?’, ‘How do I love?’, and others.
We operate at the Schauspiel Essen and we long to see more diverse stories and perspectives in on-stage storytelling. Perspectives other than the (often times failing) hetero-love story.
It’s not because we reject hereto-stories but because those are oftentimes the only stories that are given a stage.
In late 2020, in the midst of the lockdown, we woke up one morning and –telepathically connected – each and everyone of us asked themselves ‘When am I enough?”
So we began writing and looking for texts.
Questioning your ‘being enough’ is an immensely big task; When are you enough? In which situations do you feel like you are ‘enough’? When don’t you feel that way? Which parts of you are enough? Which aren’t? What does ‘enough’ even mean? ‘Enough’ for whom or what? – all those thoughts and further questions inspired us to write.
Thus, scribbles came about. Nothing solid, just...snapshots. Somewhat like a diary or a journal.
Fortunately that wasn’t enough for us and we wanted a person to visit us at home and take photos of us. Eventually that happened. This person came to us and took photos, talked to us about being enough as well as other things.
Now we had someone arrange those photos along with our texts.
Many thanks to everyone involved!

himmelwärts

Johanna

Zuerst stelle ich mir Nebel vor. Driftender Nebel in einer weiten Landschaft. Im Nebel erscheint ein Wegweiser. Ich höre deine leisen Schritte auf dem Kiespfad.

+

Nicht alle Geschichten bekommen eine Bühne. Wir haben viele Geschichten über weiße hetero cis Männer in Lebenskrisen. Wie viele Geschichten haben wir über queere Menschen? Geschichten über ihre Liebe, ihre Krisen, ihre Taten. Ich bin es nicht gewohnt ihre Geschichten auf der Bühne zu sehen. Im Gegensatz zu Geschichten über Männer in Lebenskrisen, sind Geschichten über Menschen wie mich die Ausnahme. In wie vielen Stücken sind Frauen einfach dafür da, die Entwicklung der Männer zu unterstützen? Wie viele Geschichten über queere Menschen gibt es auf Bühnen? Wie gut muss eine Geschichte sein, damit sie überzeugt, dass queere Menschen auf die Bühne gehören? Ich versuche es. 

Zuerst stelle ich mir Nebel vor. So beginnt es. Driftender Nebel in einer weiten Landschaft. Im Nebel erscheint ein Wegweiser. Ich höre deine leisen Schritte auf dem Kiespfad. Du bist bei mir. Ich bleibe vor dem Wegweiser stehen und studiere die Richtungsangaben. Ich versuche die Richtungen mit meinem inneren Kompass abzugleichen. Der innere Kompass dreht gemächlich Kreise. Heute wird er nicht mehr zur Ruhe kommen. Es wird Abend und Zeit ein Zelt aufzubauen, Tee zu kochen und ein Gespräch mit der Einsamkeit zu führen. Knapp nach der Dämmerung, während die ersten Sterne am Himmel erscheinen und zwischen dahin ziehenden Wolken blinzeln. Die Venus steht in einer geraden Linie über dem Pfosten des Wegweisers.

Den kleinen Gaskocher schraube ich auf die Gaskartusche. Ich habe Sturmstreichhölzer, aber heute geht kein Wind. Meine Metalltasse stelle ich über die Flamme, während du mit der weiten Leere sprichst. Dein Haar weht in Richtung Himmel und vermischt sich mit dem tiefen Abendblau. Meine wortlose, ewige Begleiterin. Barfuß tanzt du die Musik der Windstille. Mein Teewasser kocht. Dunst steigt sanft aus der Tasse und ich rieche die Stille und den Tee.

Die Tasse liegt heiß in meiner Hand. Der Tee ist durchgezogen und die Sterne leuchten in deinen Haaren. Ich rieche am Tee - Holunderduft. Ich spüre die Kühle an meinen Socken. Das Zelt steht, die Luftmatratze ist aufgeblasen und der Schlafsack liegt bereit. Ich habe Zeit. Viel Zeit. Zu viel Zeit. Ich bin unterwegs. Ich denke daran, dass ich einfach länger da sein könnte, wenn ich wüsste, wo ich hin wollte. Der Weg ist schön und oftmals steinig.

Ich habe gute Jacken, Pullover, Hosen. Die Kälte der Nacht, die dir nichts anhaben kann, kriecht trotzdem in mich und meine Knochen. Ich mache einen kleinen Spaziergang und atme die Dunkelheit und die Welt. Ich kann dich nicht sehen. Vielleicht hat dich doch eine Böe davongetragen. Die Erde hebt mich himmelwärts und die Nacht strahlt auf meine Haut. Ich bin umarmt. Aber bin ich genug? Mit kalten Füßen steige ich in das Zelt, in den Schlafsack. Ein Kokon, der der Nacht statthält.

Am Morgen stehen Mars und Venus schwach glimmend am Horizont. Ich kratze den warmen Brei aus meinem kleinen Topf und wasche ihn aus. Alles was ich habe, alles was ich bin, verpacke ich wieder in einem Rucksack. Er ist leicht geworden, oder ich stark. Den Wegweiser passiere ich, ohne ihn zu lesen und auch der Kompass zeigt mir keine Richtung. Ich gehe trotzdem weiter. Trotzdem. Irgendwann treffe ich dich auf einer Düne. Es ist Herbst geworden und Nebel steigt aus dem Meer. Du trägst ein mitternachtsblaues Kleid und es weht im Wind. Ich frage in den Wind und er trägt die Worte zu mir zurück: Wann bin ich genug? Du umarmst mich und ich rieche Disteln.

Wie war es? Ich finde die Geschichte ist nicht gut genug. Kein schlagender Beweis. Nur eine Geschichte.

Ich habe kein Gefühl dafür, dass sich das Publikum für so eine Geschichte interessieren könnte. Ich habe kein Gefühl dafür, dass meine Geschichte genug ist für eine ganze Bühne. Ich bin ein Teil eines theaterpädagogischen Projekts. Das untere Ende der Anerkennungs-Nahrungskette. Hier dürfen auch wir queere Menschen mal spielen. Mit begrenzten Mitteln. Mit begrenzten Publikum. Sicher eingegrenzt bekommen wir einen kleinen Raum in einer Ecke des Theaters. 

Die Grenzen sind eng gezogen und trotzdem kommt mir die Bühne groß vor. Ich komme mir allein vor. Obwohl wir so stark in die kleinste Ecke gedrängt werden, zweifle ich daran, dass ich die Aufgabe alleine bewältigen kann. Ich will die queeren Menschen nicht alleine repräsentieren müssen. Ich will nicht, dass mein Körper, meine Stimme, meine Ideen für alles queere stehen müssen. Queer sein ist unhierarchisch. Anti-Hierarchisch. Keine Person spricht für alle. 

Wenn ich hier alleine stehe, stehe ich dafür, dass es zu wenig ist, dass nur ich hier stehe. Das es nicht reicht. Ich kann nicht reichen, wenn ich alles repräsentieren soll. Also tue ich es nicht. Ich lasse los und stehe für niemanden. Nicht mal für mich. Nur für eine Geschichte. 

Ich stelle mir Nebel vor. Und einen Wegweiser. Und das Meer. Und einen Rucksack. 

Das ist genug. 

Not all stories get a stage. We get a lot of stories about white, hetero, cis men in life crises. How many stories do we get about queer people? Stories about love, its crises, its actions. I’m not used to seeing such stories on stage. Opposed to stories about men in life crises, stories about people like me are the exception. In how many plays do the women characters solely serve the purpose of supporting the male characters’ development? How many stories about queer people are there on stage? How good does a story have to be to convince the world that queer people belong on stage? Let me try...

At first I picture fog. That’s how it starts. Drifting fog in a wide field. A signpost emerges from the fog. I hear your gentle steps on the gravel of the path. You are with me. I come to a halt in front of the signpost and study the directions. I try to match them with my inner compass. The inner compass is leisurely turning in circles. It’s not going to come to rest today. Night falls and it’s time to set up the tent and brew tea. Time to converse with solitude.  

It’s shortly after dusk, the first stars make their appearance in the night sky, twinkling in between the passing clouds. Venus is aligning with the pole of the signpost below. 

I screw my camp stove onto the gas cartridge. I have storm matches but there is no wind today. I place my metal cup on the stove as you have a chat with the vacancy.  Your hair is blown towards the sky. It blends into the deep blue of the night. On bare feet, you dance to the tune of the doldrums. My tea water is boiling. Steam is gently emerging from the cup and I smell silence and tea. The cup feels hot in my hand. The tea is done steeping and the stars are gleaming in your hair. I smell the tea – elderberry scent. I feel the cold creeping into my socks. The tent is set up, the airbed inflated, and the sleeping bag ready. I have time. So much time. Too much time. I’m on my way. It crosses my mind that I could stay longer if I only knew where I wanted to go. The route is pretty and often rocky. I have good coats, sweaters, pants. The cold of the night can’t harm me yet it is still creeping up on me and into my bones. 

I take a quick walk and breathe in the darkness and the world. I can’t see you. Maybe you’ve been taken away by a gust of wind. The earth is lifting me towards the sky and the night is beaming onto my skin. I am embraced. But am I enough? My feet are cold as I climb into the tent and crawl into my sleeping bag. 

A cocoon that defies the night. 

In the morning, Mars and Venus are faintly gleaming on the horizon. I scoop the warm mash out of the pot and rinse it. Everything I own, everything I am, I put it back into my backpack. It got a little lighter – or I got stronger. I pass the signpost without reading what it says. The compass doesn’t show me a direction either. I keep walking regardless. Regardless. At some point I meet you in the dunes. Fall has come and fog is emerging from the sea. You’re wearing a midnight blue dress. It’s blowing in the wind. I ask the wind and it carries the words back to me: When am I enough? You embrace me and I smell thistles. 

What did you think? I think the story is not good enough. No strong evidence. Just a story. 

I don’t feel like the audience would be interested in a story like that. I don’t feel like my story is enough for a whole stage. I’m part of a pedagogical theatre project. The very bottom of the food chain of acknowledgment. This is where queer people are allowed to play. With limited means. For a limited audience. Strictly limited we get a small space in the corner of the theater. The borders are drawn tightly yet the stage seems big to me. I feel alone. Despite being urged into the tightest corner I doubt that I can handle this task by myself. I don’t want to represent queer people all by myself. I don’t want my body, my voice, my ideas to stand for everything that is queer. Being queer is un-hierarchic. It’s anti-hierarchic. No one speaks for everyone. 

If I stand here by myself I stand for it not being enough to stand by myself. That it’s insufficient. I can’t be sufficient when I am supposed to represent everything. So I don’t. I let go and stand for no one. Not even for myself. Just for a story. 

I picture fog. And a signpost. And the sea. And a backpack. That’s enough.

Verwandlung

Rik*e

I want to dance real true love, true existence. And even after our life: continue to discover it.

+

BUTŌ, sagen sie, is violence and eros
is fighting with yourself
is resistance and revolution
and all this is big love.

Dies ist eine Geschichte
aus dem Herzen der Gewalt
steinern
von Schweigezirkeln
Tabus
und Tackernadeln im Kopf
Von wunder Haut
ererbt von deinen Vätern
vererbt an deine Nächsten

Und eine Geschichte von der Rückkehr
ins Auge des Sturms
von Ungeduld und Trägheit
vom Ringen mit sich
um dich um mich
vom Überschreiten einer Grenze
Was wendet die Not?
aus den Spiralen der Gewalt auszusteigen
die Mauern zu durchbrechen
von unsagbar, undenkbar, unmöglich

Und von der Befreiung
zu sehen, zu gehen, zu reden
aus der Kraft eines blutenden Herzens.

Wann bin ich genug?
In meinem Ungenügen.
Bereit zu sein, etwas zu riskieren
mein Ansehen, meine Haut
in euren Augen, in den meinen
weil mir etwas
oder jemand
wichtiger ist
unverzichtbar und unendlich viel wichtiger.

„maybe it‘s not about the happy ending
maybe it’s about the story“
maybe the story IS the happy -

„Erzählen ist human und bewirkt Humanes, Gedächtnis, Anteilnahme, Verständnis – auch dann, wenn die Erzählung teilweise eine Klage ist über die Zerstörung des Vaterhauses, den Verlust des Gedächtnisses, das Abreißen von Anteilnahme, das Fehlen von Verständnis. … Ausstoßung, das wissen wir ja, bedeutete für den Frühmenschen, der fest in Familie, Clan, Stamm eingebunden war, den sicheren Tod: durch Angst, Reue, Grauen, eigentlich wohl durch eine Auflösung jenes inneren Gerüstes von Werten, ohne das auch wir nicht leben können … Zu schweigen von jenen Fällen, in denen wir nicht anders können, als selbst dieses Gerüst zum Einsturz zu bringen und uns dadurch in jene Lage zu begeben, die, weil sie keine uns annehmbare Alternative bietet, ‚tragisch‘ genannt wird und die der Literatur so günstig ist.“

Aber was dann?

„Erzählen ist Sinngeben, und wenn das Erzählen nicht ausreicht, wenn man, ein anderer Odysseus, nach fast dreißig Jahren zurückkommt und sieht, man ist nicht erwartet worden, das Vaterhaus verfällt, die Familie lebt in schwierigen Verhältnissen, die Nachbarn schicken ihre Ziegen auf das Grundstück: Dann geht man hin und baut eben das Haus wieder auf, versteht ihr das.“ (Christa Wolf: Kassandra. Berlin und Weimar, 1984)

Versteht ihr das?
Ich will, dass Du sein kannst.
Was ist Liebe? Was Freiheit?

„Es war wie wenn Nordkorea und Südkorea ihre Grenzen öffnen und sich wiedervereinigen würden und wie wenn Leute, die sich jahrelang nicht sehen durften, wieder zusammen kommen würden. Es war ein Fest, wir fühlten uns verbunden, und das schon seit Ewigkeiten.“ 

(Joël Pommerat: Die Wiedervereinigung der beiden Koreas, dt. v. Isabelle Rivoal. Merlin Verlag)

„I want to dance real true love, true existence.
And even after our life: continue to discover it.“

(Kazuo Ōno)


BUTŌ, they say, is violence and eros
is fighting with yourself
is resistance and revolution
and all this is big love.

This is a tale
from the heart of violence
stony
about circles of silence
taboosand staples in the head
about sore skin
passed down from your fathers
passed on to those closest to you 

And a tale about returning
to the eye of the storm
about impatience and lethargy
about struggling with oneself
about you and me
about crossing borders
what does the hardship change?
exiting the spirals of violence
breaking down walls
of ineffability, incredibility, impossibility.

And about liberation
to see, to go, to speak
from the strength of a bleeding heart.

When am I enough?
In my insufficiency.
Ready to risk
my reputation, my skin
in your eyes, in mine
because something
or someone
is more important to me
indispensable and infinitely more important.

„maybe it‘s not about the happy ending
maybe it’s about the story“
maybe the story IS the happy -

“Storytelling is human and achieves humanity; remembrance, condolence, sympathy – even when the story is partially a lamentation about the destruction of the parental home, the loss of remembrance, the destruction of condolence, the lack of sympathy...

Expulsion – that much we know – meant certain death to the early human who was firmly integrated into family, clan, tribe: through fear, regret, dread, actually through the destruction of the very structure of values that we couldn’t live without....

Not to speak of those cases in which we can’t do anything but willingly break down that structure and put ourselves in a position that – due to its lack of offering an acceptable alternative – is considered “tragic” and widely favored by literature.”

And then what?

“Storytelling is to give meaning and when the storytelling is insufficient – when upon your  return – as another Odysseus – nearly thirty years later you come to see that no one has been expecting you, the parental home is in ruins, the family is living in poor circumstances, the neighbors send their goats to grass on your land: then you go and rebuild the house, you see.”

(Christa Wolf: Kassandra. Berlin and Weimar, 1984)

Do you see?
I want you to be able to be. 
What is love? What is freedom?

“It was like North and South Korea opening their borders and reuniting. Like people who’ve been unable to meet for years reconvening. It was a celebration, we felt connected like we had been forever.”

(Joël Pommerat: The Reunification of the Two Koreas)

„I want to dance real true love, true existence.
And even after our life: continue to discover it.“

(Kazuo Ōno)

Entscheidungen

Becs

Genug sein und Genug sein wollen sind zwei verschiedene Dinge.

+

Ich wache auf und bin wie so oft unzufrieden. Ich schaue in den Spiegel und suche nach Gründen für meine Misere. Okay, Ich bin vielleicht nicht die klügste, hübscheste oder schlagfertigste… aber habe ich nicht auch viele Gründe glücklich zu sein? Mein Blick wandert zu meinen Tattoos. Heute gefallen sie mir nicht. Nicht nur eins sondern alle. Wozu wollte ich den Schrott? Ich fange an, mich dafür zu verurteilen und alles, was ich vermeintlich habe und bin, kleinzureden. Wieso vergeude ich mein Leben? Da muss doch noch mehr sein! Lebe ich mein Potenzial oder hab ich die Chancen alle vergeigt? Und schon wieder fängt das Gedankenkarussell an: Wie kann ich dort ankommen, wo ich unbedingt hin will und welchen Weg muss ich gehen? Ich weiß, ich sollte einfach den Kopf ausmachen, drauf scheißen und mich selbst lieben. Stattdessen denke ich an gestern, als ich das kurze Kleid getragen habe. Die Blicke der anderen gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Und dann noch dieser Spruch! Verdammt. Die Menschen sehen meine Tattoos und denken, dass sie mich kennen würden. Oder ist das, was ich denke, was die anderen scheinbar denken, der Denkfehler? Naja, was ich meine ist: Was die anderen denken, sollte mir egal sein. Ich will nicht mehr davon abhängig sein, was andere meinen in mir zu sehen. Zugleich möchte ich als diejenige wahrgenommen werden, die ich bin und Menschen inspirieren. Aber gehören die Tattoos dann nicht auch irgendwo dazu? Schließlich kann ich sie ja schlecht verleugnen, an einem Tag mögen und am nächsten wieder verstecken. Dennoch habe ich Angst, mich in diesen Blicken zu verlieren. Oder noch schlimmer, in meinen eigenen Gedanken hängen zu bleiben. Um was geht es hier wirklich? Plötzlich überkommt mich die langersehnte Erkenntnis: Diese Sorgen liegen einer Entscheidung zugrunde, die ich leider immer wieder vergesse zu treffen. Denn ist doch so: Genug sein und Genug sein wollen sind zwei verschiedene Dinge. Wenn ich mich aus dem Ist-Zustand entferne, bin ich verwundbar. Das geschieht beim Betrachten meiner Körperkunst häufig, weil ich mit dem Gedanken “Was wäre, wenn ich meine Tattoos nicht hätte…” mich blitzschnell in den Will-Zustand katapultiere. Es dauert oft nur wenige Minuten und schon überkommen mich heftige Emotionen wie Trauer, Reue, Wut, Zweifel, Ekel und Scham. Würde ich wirklich mit weniger Anmachsprüchen, sexistischen oder abwertenden Blicken, Vorurteilen und einer leichteren Kleiderauswahl konfrontiert werden? Ganz ehrlich, wohl kaum. Dann merke ich, dass mir Tattoos auch eine menge Freude bieten und mich an meine bisherige Lebensreise erinnern. Gleichzeitig sind sie eine großartige Metapher für all die vermeintlich schlechten Entscheidungen, dich ich in meinem Leben bisher getroffen habe, die sich dann doch als zufriedenstellende Fügung fürs große Ganze entwickelten. Auch sind sie die besten Lehrmeister, weil sie mich täglich daran erinnern, mich nicht in diesen oberflächlichen Äußerlichkeiten zu verlieren sondern tiefer zu graben. Da, wo ich wirklich bin. Ich merke, dass es nie wirklich um die Tattoos ging.

Ich wache auf, schaue in den Spiegel und was ich sehe überrascht mich. Ich sehe zufrieden aus. Nicht, weil ich heute besser aussehe oder mich besser fühle als gestern. Sondern weil ich mich dafür entschieden habe, trotz Unsicherheiten, Fehlern und nen Haufen Tattoos, die ich mal mehr und mal weniger mag, zu erkennen, dass ich so, wie ich bin, genug bin. Eine Entscheidung die ich nicht nur jeden Morgen treffen zu habe, sondern jeden Moment. Immer und immer wieder.

I wake up and – as so often – I am discontent. I look into the mirror and start looking for reasons for my misery. Okay, perhaps I’m not the smartest, prettiest, or the most quick-witted... but don’t I also have many reasons to be happy?

I let my eyes wander towards my tattoos. Today I don’t like them. Not just one but all of them. What did I want this trash for? I start judging myself, belittling everything I seem to have and be. Why am I wasting my life away? There’s got to be more to it! Do I live up to my full potential or did I miss all chances? And once again I find myself in the same old merry-go-round of thoughts: how can I get where I long to be? Which path to take? I know I ought to get out of my head, say ‘screw it’, and love myself. Instead I think of yesterday when I was wearing that short dress. I can’t stop thinking about everyone else’s stares. And then that catcall! Damn it. People see my tattoos and think they know me. Or does the fault lay in me for assuming to know what the others are thinking? Well, what I mean is ...what other people think shouldn’t matter to me. I don’t want to depend on what other people think they see in me. At the same time I want to be perceived as the person I am and inspire people. But aren’t the tattoos part of that in some way? After all I can’t deny them, love them one day and hide them the next. Then again I’m scared to lose myself in those stares. Or even worse; to get stuck in my own thoughts. What is all of this really about? Suddenly the desired realization hits me: these worries underlay that one decision I keep forgetting to make. 

After all: being enough and wanting to be enough are two entirely different things. If I remove myself from my actual state I become vulnerable. That often happens when I regard my body art because via thoughts like “what if I didn’t have my tattoos?” I quickly catapult myself into the wanting-state. A lot of the time I am overcome by the most severe of emotions within merely minutes and grief, regret, anger, doubt, disgust, and shame wash over me. Would I really have to deal with less catcalls, sexist or derogatory stares, prejudice, and the desire for a different choice of clothing if I didn’t have them? Let’s be real; most likely not. Then I realize that my tattoos also tend to bring me a lot of joy and that they bear the memory of my life’s  journey so far. At the same time they are a great metaphor for all the supposedly bad decisions I’ve made that turned out to be rather satisfactory acts of providence after all. Additionally, they’re the best teachers. They serve as a daily reminder not to lose myself in superficial appearances but to dig deeper. To where I’m truly at. I realize that it has never really been about the tattoos. 

I wake up, look into the mirror and what I see surprises me. I look content. Not because I look or feel better than yesterday but because I have made the decision that I am enough just the way I am. Regardless of insecurities, mistakes, and a bunch of tattoos that I like sometimes more, sometimes less. That’s a decision I have to make not only each morning but every single moment. Over and over again.

Kiss

Marguerite

Feeling that pain when you walk all the way to the next village because you want to gift your favorite gay charming dream love person a flower ...

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Feeling that pain when you have a “male” body and you begin to put makeup on your face.
Feeling that pain when the people around you start making love and you can’t.
Feeling that pain when you walk all the way to the next village because you want to gift your favorite gay charming dream love person a flower but you change the direction right before you get to his house. 

Feeling that pain when he kisses a “biological” girl.

Feeling that pain when you are a “boy” and kiss another boy for the first time.

Feeling that pain when you leave him because you have to since he is living far away.

Feeling that pain when he destroys your vulnerable, youthful heart.

Feeling that pain when you decide not to love any man because they will hurt you. 

Feeling the pain of this narrative.

Feeling that pain when you decide to sleep with a lot of people without love.

Feeling that pain when you wear a mini skirt for the first time and the people laugh and call you a crazy bitch.

Feeling that pain when you wear a mini skirt and have sex wearing it for the first time. 

Feeling that pain because your mother wants forgiveness. And you give.


The story will continue ...
In our project I want to talk about scars and desires.

unverwüstlich

Charlotte

Alle sind unterwegs.
Und ich, ich bin Beobachterin.

+

Ich stehe im Essener Hauptbahnhof. Es ist laut, dreckig. Motorengeräusche der Busse, Ansagen aus den Lautsprechern, Schritte, Trolleys, die über den Boden gerollt oder geschleift werden. Einfahrende und ausfahrende Züge, was ist ihr nächstes Ziel? Die Menschen rennen hastig von A nach B und rempeln mich an, dabei hab ich mich doch an den Rand gestellt. Das Licht ist grell und die Luft etwas dick. Tauben haben sich in den Bahnhof verirrt. Eine sitzt neben mir und pickt ein paar Krümel von irgendeinem Mecces-Burger, den sich manche Leute schon morgens um halb 9 gönnen. Ich weiß nicht, ob ich das bewunderns- oder verabscheuenswert finde. Ich beobachte die Menschen, die an mir vorbeigehen. Schnelle Schritte. Kurze Beine. Hohe Schuhe. Lange Bärte. Löchrige Hosen. Aktentaschen, Rucksäcke, Reisekoffer. Alle sind unterwegs. Und ich, ich bin Beobachterin. Irgendwie ist es ganz nett sich mal aus dem Trubel rauszunehmen. In meinen abgetragenen Sneakern stehe ich hier, kratze mit meiner rechten Fußspitze die linke Wade, um 2 Sekunden später festzustellen, dass an der Stelle nun Dreck ist. Blöd.

Das Mädchen in der mintfarbenen Jacke sieht so verloren aus, als wüsste sie nicht so genau, wohin mit sich und erinnert mich an meine Schulfreundin. Sie hat die dunklen Haare zu einem Zopf geflochten, der ihr auf den Rücken fällt. Die Schultern leicht nach oben gezogen, als ob sie sich verstecken wollte vor der großen, grausamen Welt. Wovor hat sie denn soviel Angst? Sie fühlt sich so klein, so verletzlich. In der Schule sagen sie ihr, sie sei anders. Die andern lachen über sie. Ihre Kleidung, ihre Sprache, ihren Humor? Sie weiß es nicht genau, aber es fühlt sich nicht gut an. Die Eltern fragen, ob sie nicht mal ihre Freunde einladen möchte, welche Freunde? Die Kinder, die über sie lachen, wenn sie sich im Unterricht gemeldet hat? Das tut sie jetzt nicht mehr, sie versucht niemandem mehr einen Anlass zu geben, sich über sie lustig zu machen. Jedes Wort ein Fehler. Die Kinder, die auf dem Pausenhof mit dem Finger auf sie zeigen? Was unterscheidet sie so sehr von den anderen, was macht sie zur Zielscheibe von Spott und Gemeinheiten? Ein Rätsel, das sie nicht lösen kann. Sie würde sich so gerne trauen, jemandem davon zu erzählen. Doch wem nur, da ist niemand. Sie fühlt sich ganz allein. Sie fühlt sich hilflos.

Der Herr in Gummistiefeln stapft nun schon seit über 10 Minuten den Gang entlang auf und ab. Unter dem linken Arm klemmt ein Kissen und in der Hand hält er eine uralte Tischlampe. Das Erbe von Oma. Er zieht einen weinroten Koffer hinter sich her. In diesem Koffer: Erinnerungen an ein anderes Leben. An ein Leben, in dem er gelernt hat, nicht er selbst sein zu dürfen. Der ewige Kampf zwischen Anpassung an die Vorstellungen der anderen oder das persönliche Bedürfnis zu sein.  „Warum hast du dir die Haare abrasiert, sie waren doch so schön!“ „Sind das Narben an deinem Arm, ritzt du dich etwa!?“ „Du warst schon immer so komisch. Ich wusste doch seit ich dich kennengelernt habe, dass du zu nichts taugst.“ „Du bist nicht mehr mein Kind!“ „Geh doch irgendwohin, wo du erwünscht bist!“ Noch viel mehr Worte hallen in seinem Kopf nach. All das hat er hinter sich gelassen. Jetzt startet er von Neuem. Angestrengt beißt er die Zähne zusammen und umfasst den Griff seines Koffers fester. Wenn er gleich diesen Bahnhof verlässt, weiß er nicht in welche Richtung er gehen darf. Sein Kiefer tut beinahe weh, so sehr muss er sich anstrengen, um die Tränen zurückzuhalten, es ist nervenaufreibend. Er hat es bis hierhin geschafft. Möchte die Zeit der Verletzungen hinter sich lassen. Neue Leute treffen, unterstützt werden, geliebt werden wie er ist. Was, wenn er jetzt den falschen Weg einschlägt? Wie auch immer, auch auf Umwegen findet man sein Ziel, vielleicht ist sogar der Weg das Ziel, wer weiß das schon! Hauptsache vorwärts denken.

I am standing inside Essen main station. It’s noisy, filthy. The sound of bus engines, announcements from the speakers, footsteps, trolleys that are being wheeled or dragged along the floor. Approaching and departing trains. Where are they going? People are running hastily from A to B, they bump into me despite me standing at the edge already. The lighting is harsh and dazzling and the air feels kind of stuffy. Pigeons have somehow found their way into the station. One is sitting next to me, picking up crumbs of some McDonalds burger people apparently treat themselves to as early as 9am. I’m not sure if I find that admirable or abhorrent. I observe the people who pass me. Quick steps. Short legs. High heels. Long beards. Ripped jeans. Briefcases, backpacks, suitcases. All of them on the move. And me? I’m an observer. Somehow, it feels nice to remove oneself from that turmoil for once. I stand here wearing my worn out sneakers. I scratch my left calf with the tip of my right foot only to realize two seconds after that it stained my pants in that spot. Stupid.  

The girl in the mint green coat looks lost. As if she didn’t know where exactly she was headed. She reminds me of a friend from school. Her dark hair falls onto her back in a braid. Her shoulders are slightly raised as if she’s trying to hide from the big, cruel world. What is she so scared of? She feels so small, so vulnerable. Kids at school tell her she’s different. They laugh at her. Her clothes, her language, her humor? She’s not entirely sure but it doesn’t feel good. Her parents ask if she wants to invite her friends over. What friends? The kids that laugh at her when she raises her hand in class? She has stopped doing so. She doesn’t want to give them occasion to ridicule her. Each word is a mistake. The kids who point their fingers at her in the schoolyard? What is it that sets her apart from the others? What is it that makes her the butt of their jokes and vulgarities? It’s a puzzle she can’t solve. She’d love to have the courage to tell someone about all of this. But whom? There’s no one there. She feels entirely alone. She’s helpless. 

The guy in the rubber boots has been pacing the hall for ten minutes already. He’s got a pillow tucked under his left arm and he’s holding an old table lamp in his hand. Nana’s inheritance. He’s trailing a wine red suitcase behind. Inside the suitcase: memories of a past life. Of a life in which he learned that he could not be himself. The constant struggle of adapting to other people's expectations against one's own desire to be. “Why did you shave your head? your hair was so beautiful!”, “Are those scars on your arm? Have you been cutting?!”, “You’ve always been so odd. From the moment I met you I knew you were no good.”, “You’re not my child anymore.”, “Go somewhere you are welcome.” Plenty of other words resonate in his head. He has left all of this behind. Now he is starting over. He clenches his teeth and tightens his grip on the suitcase. Once he leaves the station he is uncertain of what direction he is supposed to choose. His jaw almost hurts, that’s how much he has to make an effort to hold back the tears. It’s nerve wracking . He’s made it this far. He wants to leave the times of hurt behind. To meet new people. To find support. To be loved the way he is. What if he chooses the wrong path? Whatever. One can also reach one’s destination the roundabout way. Maybe the journey is the destination. Who knows? Think forward. That’s what matters most.

diffus

Nicole

Wenn ich mich fühlen kann, ist alles gut. Ich erinnere mich, mal verstehe ich, mal nicht.

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Für wen stellt sich die Frage wann ich genug bin. Ziellos streife ich den Gedanken ab. Führt zu nichts, führt mich nicht. Brauche ich deinen Blick auf mir, erkenne ich mich erst durch dich? Nur für mich stell ich mir die Frage nicht.

Grenzen verschwimmen, mein Inhalt entleert sich im Raum. Ich dehne mich aus, ziehe mich zusammen, lenke meinen Blick ins Nichts, diffus und nur für mich. Allein komm ich zurück zu mir, brauche diese Grenzen nicht. Wenn ich mich fühlen kann, ist alles gut. Ich erinnere mich, mal verstehe ich, mal nicht.

Doch auch wenn ich allein bin, gibt es da noch dich, du machst was mit mir und ich mit dir. Ich bin nicht allein. Bin ich allein? Und brauche ich dich?

Who wonders when I am enough. Erratically I strip off that thought. It doesn’t lead anywhere, doesn’t guide me. Do I need your eyes on me, do I only recognize myself through you? The only person I don’t ask myself that for is me.

Lines blur, my substance evacuates into the room. I expand, I retract, stare into the void, scattered, on my own. When I’m alone I return to myself. I don’t need those lines. As long as I can feel myself all is well. I remember. Sometimes I understand, sometimes I don’t. 

But even though I am alone you’re still here. You do something to me and I do something to you. Am I alone? And: Do I need you?